Der Zigarettenstummel des Vaters – Sakramente (I)

In den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts war er bei katholischen Theologiestudierenden legendär: Der Zigaretten­stummel von Leonardo Boffs Vater. Mit Hilfe des Stummels einer Strohzigarette, der letzten, die sein Vater geraucht hatte, bevor er verstarb, erläuterte Boff in seiner kleinen Sakramentenlehre, was ein Sakrament ist.

Der Zigarettenstummel ist dem Brief beigelegt, der dem Studenten 1965 die Nachricht vom Tod seines Vaters im fernen Brasilien übermittelt. Nach dem ersten Schock findet der junge Mann im Briefumschlag den vergilbten Stummel, dessen Geruch ihm sogleich den Vater gegenwärtig macht. Er sieht ihn vor sich, wie er «das Stroh schneidet, den Tabak rollt, das Feuerzeug anzündet, lang an der Zigarette zieht, unterrichtet, Zeitung liest, mit dem Funken sich dabei das Hemd verbrennt, bis tief in die Nacht hinein im Büro arbeitet und dabei raucht… und raucht.»1

Wenn Dinge anfangen zu erzählen

Der Zigarettenstummel ist mehr als ein gewöhnlicher Zigarettenstummel: Er erzählt vom Vater, spricht vom gemeinsamen Leben und wird dem jungen Mann so zum kostbaren Schatz. Selbst Monate und Jahre später noch vermag der Zigarettenstummel ihn zu berühren und die Vergangenheit lebendig werden zu lassen: «Die letzte Zigarette erlosch mit dem sterblichen Leben. Aber dennoch: Etwas brennt irgendwie noch immer, aufgrund der Zigarette.»2

Leonardo Boff, *1938, Concordia/Brasilien

Zeichen und Symbole

Leonardo Boff spricht in seinem Büchlein vom Sakrament des Zigarettenstummels. Dies, weil der Zigarettenstummel über sich hinausweist und als Zeichen fungiert. Er wird für ihn zum Symbol – des Vaters, der Kindheit, der Geborgenheit, etc. – und bekommt als solches seinen einzigartigen Wert. Als Symbol wendet sich der Zigarettenstummel ans Herz. Sakramente sind keine Kopfsache, sondern wesentlich ganzheitliche Erfahrungen. Wer sakramental lebt, lässt Dinge und Menschen in sein Leben eindringen. Oder anders gesagt: Wer nicht unbeteiligt durch die Welt geht, wer sich engagiert einlässt auf die Welt und Beziehungen knüpft, erfährt umso stärker die Sakramentalität von allem. Wie sagt doch der kleine Prinz zu den 5000 Rosen:

«Ihr seid keineswegs meiner Rose ähnlich. Ihr seid noch gar nichts. Für euch hat sich ja noch niemand begeistert, und ihr habt ja auch noch niemanden erobert. Ihr seid, wie mein Fuchs war. Er war ein Fuchs wie tausend andere. Aber ich habe ihn zum Freund genommen. Jetzt ist er einzig in der Welt.»3

Sakramentale Welt

Alles kann uns Menschen, unserem Blick, zum Sakrament werden, da Dinge und Ereignisse die Fähigkeit haben, uns zu berühren und «mitzunehmen». Die Philosophin und Mystikerin Simone Weil spricht von ihrer Brückenfunktion4 und spielt damit darauf an, dass Sakramente ein Ort der Vermittlung sind. In der konkreten Sinnlichkeit der Dinge und Ereignisse scheint eine tiefere, eine «transzendente» Wirklichkeit auf: in der Rose die Freundschaft, im Zigarettenstummel Geborgenheit, im Brot Hunger oder Glück. «Der Glaube sieht, wie Gnade in den einfachsten Gesten des Lebens gegenwärtig ist. Deshalb ritualisiert er sie und hebt sie auf die Ebene des Sakraments», schreibt Ottmar Fuchs.5 Und Leonardo Boff betont, dass das Sakrament den Menschen nicht aus seiner Welt stiehlt, sondern ihn tiefer hineinführt. Die Welt wird glaubenden Menschen durchsichtig auf die Ewige und ihre Verheissung hin. Vieles lässt Gott schmerzlich vermissen, anderes wird zum Zeichen der Nähe.

sacramentum und mysterion

Der Ausdruck «Sakrament» wird heute meist in einem engeren Sinn als Fachbegriff für die sieben Sakramente der katholischen Kirche gebraucht. Eine Tradition, die auf die scholastische Theologie des 13. Jahrhunderts zurückgeht. Ursprünglich ist sacramentum in den frühen lateinischen Bibelausgaben die Übersetzung des griechischen Begriffs mysterion (Geheimnis). Und dieser meint in den biblischen Zeugnissen des Neuen Testaments keine liturgischen oder rituellen Handlungen, sondern das Anbrechen der Gottesherrschaft.6 Das Geheimnis ist die Liebe und Zuwendung Gottes, die in Jesus von Nazaret erfahrbar wird. Mit ihm «erschienen die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes.»7 Christus, so formuliert Paulus, ist «das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes»8 – ein Geheimnis notabene, das von den Mächtigen dieser Welt nicht erkannt werden könne.

An diese biblische Tradition knüpft das 2. Vatikanische Konzil an, wenn es Jesus als das Ur-Sakrament versteht, in dem alle Sakramente verwurzelt sind.9 Sakramente sind keine willkürlich gesetzten Zeichen. Damit hat die katholische Theologie die sakramentale Struktur der Schöpfung, der Geschichte und der Kirche neu ins Bewusstsein gebracht. Das Göttliche zeigt sich leibhaftig und konkret, es kommt den Menschen körperlich nahe.

  1. Leonardo Boff: Kleine Sakramentenlehre, Düsseldorf 141994, S. 33. Eine neuere, leicht lesbare Einführung bietet das Buch des Tübinger Pastoraltheologen Ottmar Fuchs: Die Sakramente – immer gratis, nie umsonst, Würzburg 2015.
  2. Leonardo Boff: Sakramentenlehre, S. 33.
  3. Zit. nach Leonardo Boff: Sakramentenlehre, S. 37f.
  4. Simone Weil bezieht sich in ihren Gedanken auf das griechische Wort «metaxy», das in Platons Symposion das «Dazwischenliegende», Intermediäre meint. «Die Brücken der Griechen. Wir haben sie geerbt. Aber wir kennen ihre Anwendung nicht. Wir haben geglaubt, sie seien dazu gemacht, um Häuser darauf zu bauen. Wir haben Wolkenkratzer darauf errichtet, denen wir unaufhörlich Stockwerke hinzufügen. Wir wissen nicht, dass sie Brücken sind, Dinge, die dazu gemacht sind, dass man darübergeht, und dass man über sie zu Gott gelangt.» (Simone Weil: Cahiers 3. Aufzeichnungen, München-Wien 1996, S. 11) Vgl. auch: «Es ist das Wesen der geschaffenen Dinge, Zwischenglieder zu sein. Sie sind füreinander Zwischenglieder, und das hat kein Ziel. Sie sind Zwischenglieder zu Gott hin. Sie als solche in der Erkenntnis, der Liebe und dem Handeln erfahren.» (Simone Weil: Cahiers 3, S. 182)
  5. Ottmar Fuchs: Sakramente, S. 18.
  6. Vgl. dazu Markusevangelium 4,11, wo Jesus zu seinen Jünger:innen sagt: «Euch ist das Geheimnis [grie. mysterion] des Reiches Gottes gegeben; für die aber, die draussen sind, geschieht alles in Gleichnissen».
  7. Titus 3,4 (zitiert nach Gute Nachricht).
  8. 1 Korinther 2,7. Vgl. Kolosser 1,27 und 2,2.
  9. Vgl. Lumen gentium 1-8.

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