Die Retterinnen

Nicht der grosse Mose steht am Anfang der Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten, sondern eine ganze Anzahl starker Frauen.

Gemäss der Genesis-Erzählung, kamen die Israelit:innen aufgrund einer Hungersnot als Flüchtlinge nach Ägypten. Nachdem sie dort zunächst als Arbeitskräfte gefragt waren, kam ein Pharao an die Macht, der die Fremdenangst schürte und die Israelit:innen versklavte. Das Exodus-Buch erzählt von der Befreiung aus dieser Sklaverei und bezeugt damit in grossartiger Weise den Glauben an einen Gott, der aus jeder Sklaverei befreit.1

Zwei Hebammen

Die Versklavung der Israelit:innen reicht dem Pharao / König von Ägypten noch nicht aus. Aus lauter Angst vor einer möglichen fremden Übermacht im eigenen Land will er deren Geburten «regulieren». Er befiehlt den zwei «Hebammen der Hebräerinnen», neu geborene Söhne der Israelit:innen zu ermorden (Exodusbuch 1,15f).

Doch die beiden Hebammen – eine hiess Schifra, eine Pua – widersetzen sich dem Befehl des Pharaos, weil sie «Gott fürchten», wie es heisst. Es ist dies die wohl schönste Beschreibungen von «Gottesfurcht»:

«17 Die Hebammen aber fürchteten Gott und taten nicht, was ihnen der König von Ägypten gesagt hatte, sondern ließen die Kinder am Leben.
18 Da rief der König von Ägypten die Hebammen zu sich und sagte zu ihnen: Warum tut ihr das und lasst die Kinder am Leben? 19 Die Hebammen antworteten dem Pharao: Die hebräischen Frauen sind nicht wie die ägyptischen, denn sie sind voller Leben. Bevor die Hebamme zu ihnen kommt, haben sie schon geboren.» (Exodus 1,17-19)

«Gottesfurcht» heisst aufgrund des Verhaltens der beiden Hebammen: jeder lebensbedrohenden Macht zu widerstehen! Selbst mit einer glatten Lüge Leben zu retten (Vers 19), wenn dieses durch Diktatoren oder sonst jemanden bedroht ist. Ziviler Ungehorsam zugunsten des Humanen, das ist es, was die Hebammen Schifra und Pua leisten, das ist es, was «Gottesfurcht» hier meint.

Zwei Hebammen stehen damit am Anfang der Befreiungsgeschichte Israels!2 Sie werden mit Namen genannt, wobei die Namen vielleicht symbolhaft gewählt sind: Bei Schifra klingt das hebräische Wort für «Schönheit» an, bei Pua möglicherweise «Glanz». Interessant ist auch, dass vom hebräischen Text her die Näherbestimmung der Hebammen in zwei Richtungen verstanden werden kann: Es können «hebräische Hebammen» sein – also selbst Hebräerinnen – oder es können (ägyptische) «Hebammen für die Hebräerinnen» sein. Im zweiten Fall können es Ägypterinnen sein, die vorbildlich gottgewollt handeln.3

Die Mutter

Da dem Pharao das heimliche Ermorden-Lassen der erstgeborenen hebräischen Knaben aufgrund der mutigen Hebammen missglückt ist, ruft er nun zum öffentlichen Genozid auf:

«Daher gab der Pharao seinem ganzen Volk den Befehl: Alle Söhne, die den Hebräern geboren werden, werft in den Nil! Alle Töchter dürft ihr am Leben lassen.» (Exodus 1,22)

Der Befehl zielt auf Totalität: Er ergeht an das «ganze Volk» der Ägypter, und «alle Söhne», die den Hebräerinnen geboren werden, sollen ermordet werden.4 In diese Situation des öffentlichen Genozides hinein erzählt Exodus 2,1-4 von der Geburt eines hebräischen Kindes:

«1 Und ein Mann aus dem Hause Levi ging und nahm die Tochter Levis zur Frau.
2 Und die Frau wurde schwanger und gebar einen Sohn,
und sie sah, dass er gut war [hebr. ki-tob hu].
Da versteckte sie ihn drei Monate lang.
3 Als sie es nicht mehr verborgen halten konnte, nahm sie ein Binsenkästchen [tebah, hbt], dichtete es mit Pech und Teer ab, legte das Kind hinein und setzte es am Nilufer im Schilf aus.
4 Seine Schwester aber stellte sich in der Nähe auf, um zu sehen, was mit ihm geschehen würde.» (Exodus 2,1-4)

Wie schon der Pharao, so bleiben in Exodus 2 auch der Mann, die Frau, der neugeborene Sohn sowie dessen Schwester ohne Namen. Meiner Meinung nach nicht, weil es auf diese Namen nicht ankäme, sondern weil hier Prinzipielles und nicht Individuelles ausgesagt werden will.

Die Wahrnehmung und der Einsatz der Mutter sind entscheidend für die Rettung des Neugeborenen: Zuallererst sieht die Frau, dass das Kind «gut ist», wie es im Hebräischen wörtlich heisst (Exodus 2,2). Diese Formulierung erinnert ganz deutlich an den Anfang der Bibel, an die Schöpfungserzählung in Genesis 1,1–2,4a. Sieben Mal hat es da geheissen: «Und Gott sah, dass es gut war». Und nun, am Beginn des Exodusbuches, tut die Mutter des noch namenlosen Sklavenbabys genau dasselbe wie Gott bei der Schöpfung:

Genesis 1,4: «Und Gott sah, dass das Licht gut war…»
Genesis 1,10: «Und Gott sah, dass es gut war…» (usw.)
Exodus 2,2: «Und die Frau sah, dass er gut war…»

Der Sinn der Aussage in Exodus 2,2 ist damit folgender: Auch ein kleines, wehrloses Sklavenkind ist gut – genauso gut, wie die ganze Erde und alle Lebewesen! Auch ein Sklavenkind ist es wert, geschützt und gerettet zu werden.

Alexey Tyranov, Mutter und Schwester verstecken Mose (1839-1842)

Jedes «Menschenkind» ist gut

Leider wird der Zusammenhang von Genesis 1 und Exodus 2,2 in allen mir bekannten deutschen Bibelübersetzungen – und vielen fremdsprachigen – nicht gesehen und daher meiner Meinung nach das tob (das allgemeinste hebräische Wort für «gut») falsch übersetzt, zumeist mit «schön». Am schlimmsten sind in diesem Fall die Gute Nachricht (1997): «Als sie sah, dass es ein gesundes, schönes Kind war», und leider auch die Bibel in gerechter Sprache (2006): «und sah, dass er gesund und munter war». Wie wenn die Mutter das Kind nicht gerettet hätte, wenn es krank oder behindert gewesen wäre! Nein, die Aussage des hebräischen Textes von Exodus 2 ist das pure Gegenteil: Ausnahmslos jedes Menschenkind, selbst ein namenloses Sklavenbaby, soll gerettet werden von lebenszerstörenden Mächten. Denn jedes Menschenkind ist gut. Dies ist eine der Kernaussagen jeder ernsthaften Religion: Wer einen Menschen rettet, rettet die Welt. Diese Überzeugung formulieren explizit sowohl die jüdische wie auch die muslimische Glaubenstradition:

«Nur für diesen Zweck wurde der Mensch erschaffen: Zu lehren, wer eine einzige Seele zerstört, zerstört die ganze Welt. Und wer eine einzige Seele rettet, rettet die ganze Welt… Deshalb kann der Mensch sagen: Die Welt wurde um meinetwillen erschaffen.» (Jerusalem Talmud, Sanhedrin, 23a-b)

«Aus diesem Grund haben wir den Kindern Israels vorgeschrieben, dass, wenn einer jemanden tötet, nicht für jemand oder Unheil auf der Erde, es so sein soll, als ob er die Menschen alle getötet hätte. Und wenn einer jemanden am Leben erhält, soll es so sein, als ob er die Menschen alle am Leben erhalten hätte.» (Koran, Sure 5,32)

Dass die Handlung der Mutter in Exodus 2 in diese Richtung verstanden werden will, zeigt sich auch in dem hebräischen Wort tebah, das für das «Binsenkästchen» verwendet wird, in welches die Mutter ihren Sohn legt: Das Wort tebah wird im ganzen Ersten Testament nur hier in Exodus 2,3.5 sowie in der Sintfluterzählung (Genesis 6–9) verwendet –, dort aber bezeichnet es immer die «Arche» des Noah! Die Mutter in Exodus 2 baut also für ihr Neugeborenes eine Arche, um das Kind in gleicher Weise zu retten, wie die Arche des Noah alle Gattungen der Lebewesen gerettet hat.

Die Pharaonen-Tochter und ihre Sklavinnen

Ebenso bemerkenswert wie das Verhalten der Mutter ist das Verhalten der Tochter des Pharaos:

«5 Da kam die Tochter des Pharaos herab, um im Nil zu baden. Ihre Dienerinnen gingen am Ufer des Nils auf und ab. Und sie sah das Binsenkästchen [hebr. tebah] mitten im Schilf und schickte ihre Sklavin hin und liess es holen.
6 Und sie öffnete es und sie sah das Kind, und siehe, es war ein weinender Knabe.
Da hatte sie Mitleid mit ihm und sagte: Das ist eines von den Kindern der Hebräer.» (Exodus 2,5-6)

Wie schon die Mutter, so steht auch bei der Pharaonentochter zuerst das Wahrnehmen: «und sie sah das Kind». Weiter betont der Text, dass sie das Baby als Hebräerkind erkennt. Gemäss dem Befehl ihres Vaters, des Pharaos (Exodus 1,22), müsste sie dieses Baby nun in den Nil werfen! Doch sie gibt es dank der Vermittlung der Schwester des Kindes der hebräischen Mutter mit den Worten: «Nimm das Kind mit und still es für mich. Ich werde dich dafür entlohnen» (Exodus 2,9). Offenbar hat die Tochter des Pharaos von Anfang an die Absicht, das Kind zu adoptieren. Und so geschieht es:

«Und das Kind wuchs heran, und sie [die Mutter] brachte es der Tochter des Pharaos, und es wurde ihr Sohn. Und sie nannte es Mose und sprach: Ich habe ihn ja aus dem Wasser gezogen.» (Exodus 2,10)

Was die Pharaonentochter leistet, ist Rebellion! Es steht im direkten Gegensatz zum Befehl ihres Vaters: Statt das Baby in den Nil zu werfen, zieht sie es aus dem Nil; statt das Baby zu töten, nimmt sie es als ihren Sohn an und ermöglicht ihm dadurch das Leben. Und offenbar sind auch die Dienerinnen / Sklavinnen solidarisch mit der Pharaonentochter und verraten sie nicht. Welch’ grossartige Erzählung!

Die Retterinnen, Fresco Synagoge Dura Europos (Syrien), 3. Jh. n. Chr.

Die Schwester

Die Schwester des Moses harrt beim im Nil ausgesetzten Bruder aus, um zu sehen, was mit ihm geschieht (Exodus 2,4). Sie wendet sich später an die Tochter des Pharaos und erreicht, dass Mose von seiner Mutter gestillt wird und solange bei ihr aufwachsen kann, bis die Mutter ihn zur Pharaonentochter bringt (Exodus 2,7-10). Ob mit der Schwester hier an «Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester» (Exodus 15,20) gedacht ist, sagt der Text nicht. Dass sie jedoch unter Einsatz ihres Lebens zugunsten ihres Bruders handelt, ist offensichtlich.

Mirjam tanzt nach der Befreiung, Chludov-Psalter, 9. Jh. n. Chr.

Gottgewolltes Handeln – auch ohne «Offenbarung»

Fünf bestimmte Frauen und einige Sklavinnen schaffen die Voraussetzungen für den Exodus, den befreienden Auszug aus der Sklaverei in Ägypten. Eine erstaunlich emanzipierte Erzählung in altorientalischer Zeit! Erstaunlich auch, wie oft dies in der Auslegungsgeschichte unbeachtet blieb.

Theologisch höchst interessant ist zudem Folgendes: Keine dieser Frauen hat in der biblischen Erzählung eine explizite Offenbarung Gottes erfahren. Diese Frauen tun offensichtlich Gottes Willen von sich aus, aufgrund ihrer inneren Einstellung, ihres Gewissens. Welch’ ein Unterschied zu Mose in der weiteren Erzählung (Exodus 2,11-15; 3,1-4,18).

Besonders ist auch, dass möglicherweise die Hebammen, sicher aber die Tochter des Pharaos Ägypterinnen und damit Vertreterinnen einer ausgeprägt polytheistischen Religion sind, die andernorts in der Bibel häufig scharf abgelehnt wird (z. B. Jesaja 19; Jeremia 43,12f; Ezechiel 30,13). Damit vertreten die ersten Kapitel des Exodusbuches eine sehr religionstolerante Sicht:5 Auch andersgläubige Menschen können «Gott fürchten» bzw. Gottes Willen tun, indem sie sich nämlich für das Gute, das Leben einsetzen.

  1. Vgl. ausführlich André Flury: Erzählungen von Schöpfung, Erzeltern und Exodus (STh 1,1), Zürich 2018, S. 276-283.
  2. Vgl. hierzu und zum Folgenden Irmtraud Fischer: Gottesstreiterinnen. Biblische Erzählungen über die Anfänge Israels, Stuttgart 42013, S. 160-180; Jopie Siebert-Hommes: Die Retterinnen des Retters Israels. Zwölf «Töchter» in Ex 1 und 2, in: Irmtraud Fischer u. a. (Hg.): Tora (Die Bibel und die Frauen 1,1), Stuttgart 2010, S. 276-291.
  3. Dies vertraten bereits Philo von Alexandria (ca. 20 v. – 50 n. Chr.) und Josephus (ca. 37 – 100 n. Chr.), vgl. Nehama Leibowitz: Studies in Shemot. The book of Exodus, Jerusalem 1976, S. 31-38.
  4. Schon oft wurde gefragt, warum die hebräischen «Töchter» nicht ebenfalls umgebracht werden. Der Grund wird ein selbstsüchtig-grausamer sein: Diese werden als «Gebärerinnen» für den eigenen Nachwuchs oder für den Harem «gebraucht» – oder zu noch Schlimmerem missbraucht, wie dies viele Ausbeutungs- und Kriegsberichte, damals wie heute, immer wieder zeigen (vgl. Numeri 31,18).
  5. Vgl. für weitere Belege religiöser Toleranz im Alten/Ersten Testament Heinz-Josef Fabry: Toleranz im Alten Testament, in: BiKi 58 (2003), S. 216-223; André Flury: Vom Umgang mit Andersgläubigen (1Kön 8,41-43; Lk 7,1-10), in: Die siebzig Gesichter der Schrift, Bd. 2: Auslegung der alttestamentlichen Lesungen des Lesejahres C, hg. v. Schweizerisches Katholisches Bibelwerk, Fribourg 2012, S. 163-168; Reinhard Feldmeier: Biblischer Monotheismus und Toleranz, in: ders.: Der Höchste. Studien zur hellenistischen Religionsgeschichte und zum biblischen Gottesglauben (WUNT 330), Tübingen 2014, S. 283-298.

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