«Die Seele baumeln lassen»

Sommer – den Wind in den Haaren spüren, barfuss gehen, Himbeeren kosten und sich im Wasser des Flusses treiben lassen. Die Sommerzeit lädt ein, tief durchzuatmen und die Seele baumeln zu lassen. Ich hoffe, Sie hatten die Gelegenheit dazu! Ich hoffe, Sie haben mit einem Lachen im Herzen zurückgefunden in Ihren Alltag.

Die Redewendung «die Seele baumeln lassen» bringt uns ein Wort in Erinnerung, das wir im Alltag kaum mehr gebrauchen: die «Seele». Manche sprechen noch von den «seelischen» Krankheiten, die sich von den Krankheiten des Körpers unterscheiden. Viele kennen noch die Seelsorger:innen, die sich um «das Seelenheil» der Menschen kümmern. Ja, wahrscheinlich verbinden die meisten Leute «die Seele» mit Religion. Gerade im christlichen Kontext ist die Vorstellung einer «unsterblichen Seele», die sich im Tod vom Körper/Leib trennt und aufersteht, verbreitet. Es ist allerdings eine Vorstellung, an der die griechische Philosophie und germanische Vorstellungen einer Seelenwanderung stärker mitgewirkt haben als das biblische Denken.

Leib und Seele

Im Ausspruch «die Seele baumeln lassen» wird der Begriff «Seele» nicht als Gegenpart zum Körper bzw. zum Leib verstanden, geht es doch um eine umfassende Entspannung. «Seele» bezeichnet hier nicht einen Teil in uns, den wir freilassen. Wir lassen vielmehr unser ganzes Leben baumeln. Denn gemeint ist ein Ausruhen des Körpers und ein zur Ruhekommen des Geistes. Der Mensch erholt sich an «Leib und Seele» und findet zurück zu seiner Lebendigkeit. Die Redewendung macht damit darauf aufmerksam, dass «Seele» eine Vielfalt von Bedeutungen hat, je nach Kontext, in dem das Wort gebraucht wird.

Im biblischen Denken ist «Seele» immer mit Körperlichem verbunden. Leib und Seele gehören im Alten Orient untrennbar zusammen. Der Mensch ist nicht «zusammengesetzt», er ist eins. Dieser Einheit wird in den Übersetzungen unterschiedlich Rechnung getragen. So kommt es, dass der Psalmvers 116,4b in der Elbenfelder Bibel lautet: «Bitte, Gott, rette meine Seele!» In der Einheitsübersetzung wiederum steht: «Ach Gott, rette mein Leben!» Und die Lutherbibel von 2017 gibt den Vers wieder mit den Worten: «Ach Gott, rette mich!» Hinter allen Übersetzungen steht das hebräische näfäsch, das die antike griechische Fassung des Alten Testaments, die Septuaginta, meist mit Psyche (Seele) wiedergibt. Die neueren Übersetzungen tendieren dazu, näfäsch nicht mit «Seele» wiederzugeben, da die Psalmbeterin nicht um die Erlösung einer «Seele» bittet, sondern ganz konkret um die Rettung ihrer Person, um die Rettung ihres Lebens vor dem drohenden Tod.1 

näfäsch – Seele, Atem, Kehle

Näfäsch bezeichnet den lebenden Menschen. Wo keine näfäsch da ist, gibt es kein Leben. Der Begriff taucht denn auch in der Schöpfungserzählung auf. Wenn erzählt wird, wie Gott dem Menschen im Garten Lebensatem in die Nase haucht, dann wird damit ausgedrückt, dass der Mensch «zu einem lebendigen Wesen» (näfäsch chaijm, vgl. Genesis 2,7) wird. Die Vorstellung, dass Gott hier dem Menschen die Seele in Form eines übernatürlichen, unvergänglichen Elements einpflanzt, widerspricht der Intention des biblischen Textes und ist von der Philosophie Platons beeinflusst.2 

Das Wort «näfäsch» zeigt sehr schön, dass abstrakte Begriffe wie «Leben» oder «Person» im hebräischen Denken im Körperlichen verankert sind. Näfäsch bezeichnet ursprünglich die Kehle. Die Brücke vom Leben zur Kehle bildet der Atem. Auch der Atem wird näfäsch genannt: «Lobe Gott, meine Kehle (näfäsch) / mein Atem / mein Leben / meine Seele!» (Psalm 104,1) Kehle und Atem können im selben Wort verschmelzen, da im Menschenbild des Alten Orients mit dem Organ immer auch seine Tätigkeit mitgedacht ist. So geht mit dem Auge das Sehen einher. In ihrem Buch zur biblischen Körpersymbolik halten Silvia Schroer und Thomas Staubli in Bezug auf die Kehle fest: «Konkret auf die Kehle bezogen bedeutet näfäsch demnach nicht bloss das sichtbare Organ Kehle, sondern auch die hörbare, rufende, krächzende oder johlende Kehle und die begierige, nimmersatte, hungrige und durstige, verschlingende oder nach Luft schnappende Kehle.»3 

Näfäsch / Kehle signalisiert damit immer auch Bedürftigkeit. Wie die Luft zum Atmen brauchen wir Menschen Nahrung, Wasser, Kleidung etc., um leben zu können. Zudem brauchen wir andere Menschen und sehnen uns nach ihnen. Näfäsch kennzeichnet die Menschen durch diese Abhängigkeit und Offenheit als  bedürftige, soziale und ja, auch religiöse Wesen. Die Offenheit geht über das Einzelne hinaus auf das ganz andere. Mit dieser Offenheit für Gott sind wir nun auch wieder bei «unserer Seele» angekommen.

Sehnsucht nach Gott

Über die Verbindung von näfäsch mit der Sehnsucht, die über Hunger und Durst hinausgeht, sind wir bei der Liebe, die uns jubeln oder verzweifeln lässt. Das Verlangen und die Sehnsucht nach anderen Menschen und nach Gott, aber auch die damit verknüpften seelischen Empfindungen in ihrer ganzen Bandbreite von Hoffnung, Verzweiflung, Ungeduld, Angst oder Trauer  –  alles näfäsch. So kann die betende Hannah in 1 Samuel 1,15 sagen, sie habe ihre näfäsch vor Gott ausgeschüttet. Damit meint sie, dass sie Gott alles geoffenbart hat, ihren ganzen seelischen Zustand.4 Das Sch‘ma Israel wiederum fordert auf, Gott zu lieben mit ganzer Seele / näfäsch (Deuteronomium 6,4), das heisst mit jedem Atemzug und der Kraft des Begehrens – leidenschaftlich. Denn: «Bei Gott allein wird ruhig meine Seele.» (Psalm 62,2)

Sie fragen sich jetzt vielleicht, wenn wir uns in dieser Weise von einer unsterblichen Seele verabschieden, was ist dann mit der Auferstehung? Hier nur ein Hinweis: Paulus kann im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth von der Auferstehung sprechen, ohne den Begriff einer unsterblichen Seele zu gebrauchen (1 Korintherbrief 15).

 

Erfahren Sie zum Auferstehungsglauben mehr unter: Vom Tod zum Leben Auferstehungsglaube im Neuen Testament

  1. Vgl. dazu auch Psalm 6,4-6. Auch hier zeigt der Kontext, dass es um die Rettung vor dem Tod geht und nicht um die Rettung (der Seele) im Tod: «4 Meine Seele (näfäsch) ist tief erschrocken. Du aber, Gott – wie lange noch? 5 Gott, wende dich mir zu und errette mich (näfäsch), um deiner Güte willen bring mir Hilfe. 6 Denn im Tod gibt es kein Gedenken an dich. Wer wird dich in der Totenwelt preisen?» Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt näfäsch jeweils mit der ursprünglicheren Bedeutung von Kehle: «4 meine Kehle, unsagbar starr vor Schreck. […] 5 Kehre um, ha-Makom! Entschnüre meine Kehle».
  2. Unsere abendländische Kultur ist geprägt von einer Aufspaltung des Menschen in Körper und Geist (Dichotomie) oder Körper, Geist und Seele (Trichonomie) und ringt heute in vielen Bereichen um ein ganzheitlicheres Verständnis des Menschen. Die platonische Lehre von der unsterblichen Seele, die in einem defizitären Körper gefangen ist, spielte religions- und kulturgeschichtlich eine wichtige Rolle. Thomas von Aquin versuchte im 13. Jahrhundert die Einheit des Menschen wieder stärker zu betonen, in dem er im Rückgriff auf Aristoteles die Seele als Form des Leibes interpretierte. Eine Seele ohne Körper gibt es nach Thomas von Aquin nicht. Die Seele bleibt aber das höhere, positive Prinzip.
  3. Vgl. das Kapitel «Von der Seele zur Kehle», in: Silvia Schroer / Thomas Staubli: Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 1998, S. 61-73, hier S. 62.
  4. Vgl. Karin Müller: «So wurde der Mensch ein lebendiges Wesen…», in: Bibel heute 48 (1/2012), S. 14-16, hier S. 16.

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