«mit dem Wasser der Sintflut gewaschen»

Menschliche Grunderfahrungen

«Wir werden eingetaucht / und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen, / wir werden durchnässt / bis auf die Herzhaut». In ihrem Gedicht «Bitte» greift die Dichterin Hilde Domin auf ein bekanntes biblisches Bild zurück: die Sintflut. Fluten brechen über uns herein, gegen die wir uns nicht mehr wehren können; wir schwimmen, drohen unterzugehen; wir werden eingetaucht, ringen um Luft; wir sind ausgeliefert, vermögen uns nicht zu schützen, die Gewalt trifft uns im Innersten. Hilde Domin, in den Dreissiger Jahren vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland geflohen, drückt mit ihren Versen mehr als eigene Erfahrung aus. Immer wieder wird uns vor Augen geführt, dass Leben bedroht ist und Leiden zum Menschsein gehört. So fährt die Dichterin fort: «Der Wunsch nach der Landschaft diesseits der Tränengrenze taugt nicht.» Unser Wunsch nach einer schmerzfreien heilen Welt ist gross. Doch er taugt nicht, da er nicht selten ablenkt von dem, was ist. Dass er unseren Blick verschleiert, macht sich auch in der Lektüre der Sintflutgeschichte bemerkbar. Diese gehört wie die Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall zu den sogenannten Urgeschichten (Genesis 1-11). Wir lesen die Sintfluterzählung gerne als Appell, es nicht mehr so weit kommen zu lassen, als Aufruf an den guten Willen. Oder weit pessimistischer: Wir sprechen in Bezug auf den Sündenfall von der Ursünde, die wir über Generationen weitergeben, von der gefallenen Welt und fragen vielleicht noch, was wäre, wenn Adam und Eva den Apfel nicht genommen hätten. Die biblischen Texte erzählen jedoch nicht von dem, was war, was kommen wird oder was sein soll. Ihr Blick richtet sich auf das Leben, wie es faktisch ist. Sie erzählen von der Zwiespältigkeit unserer Welterfahrung, von den Spannungen, die das Menschsein prägen. Es werden Grunderfahrungen zur Sprache gebracht, ohne die Leben nicht zu haben ist.

Die grosse Flut – die gute Schöpfung ist bedroht

«Und Gott sah, dass es gut war.» Sie erinnern sich gewiss an das Ende der Schöpfungsgeschichte, das von Gottes Freude am Geschaffenen und seiner Zustimmung berichtet. Die Erzählung von der grossen Flut signalisiert uns schon zu Beginn, dass sie nicht losgelöst von jener Geschichte zu lesen ist. Sie führt uns gewissermassen den anderen Pol vor Augen: «Gott sah sich die Erde an: Sie war verdorben; denn alle Lebewesen aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben.» (Genesis 6,12) Wer sich die Erde anschaut, muss feststellen: Die gute Schöpfung ist bedroht! Die Erzählung lässt uns auch nicht im Unklaren, was denn die Ordnung zu zerstören droht. Es sind die Menschen, die mit ihrem Verhalten die Schöpfung aus dem Gleichgewicht bringen. Die Erde versinkt in Bosheit und Gewalt, das Böse reisst die Lebewesen mit sich fort und macht ein (Über)leben schwierig. Die grosse Flutkatastrophe ist weniger Strafe, als vielmehr die logische Folge menschlichen Tuns.

Die Arche – ein Bild der Rettung

In der Sintfluterzählung sind zwei Geschichten ineinander verflochten. Beide Stränge halten fest, dass Gott durch die Flut hindurch Leben bewahren will. Wenn Gott Noah, seine Familie und die Tiere rettet, dann gebietet er der Vernichtung, die die Menschen über sich gebracht haben, Einhalt. Die Erde soll nicht untergehen, die Menschen sollen trotz ihrer Schuld weiterleben. Dies ist die Hauptbotschaft des Textes: Die Menschen stehen nicht unter dem Fluch ihrer Taten, sie dürfen und können aus der Zuwendung Gottes leben. An das Bild der Sintflut ist das Bild der Arche gekoppelt. Im Schrecken und in der Bedrohung ist uns  Gott nahe. Da wo wir nur Vernichtung sehen, setzt Leben sich im Kleinen durch. Es geht in der Geschichte nicht darum, dass die einen untergehen und die anderen überleben. Wir sind beides: Der Gewalt ausgesetzt und zugleich mit Noah gerettet. Ebenso gilt: Die Tendenz zur Zerstörung des Lebens trägt jeder und jede in sich. Trotzdem stehen wir unter Gottes Schutz, leben unter dem Versprechen seiner Gnade.

Grundspannungen des Lebens

Ähnlich die Geschichte vom Sündenfall. Da werden die aus dem Paradies Vertriebenen von Gott gekleidet. In ihrer Blösse schenkt er ihnen Schutz, Zuwendung und Ansehen. Auch in dieser Erzählung geht es nicht um die Abfolge von Schöpfung und Fall, sondern um die Grundspannungen des Lebens. Sie erzählt davon, dass wir uns zur Freiheit berufen, aber auch von Schuld gezeichnet erfahren. Dass uns Räume eröffnet und Grenzen gesetzt sind. Dass jeder und jede von uns mit Krankheit, Tod und Einsamkeit zu schaffen hat. Dass wir uns auf dieser Erde heimisch fühlen und fremd. Dass Gott uns nah-fern ist. Dass unsere Beziehungen glücken und wir uns belasten. Dass die not-wendige Arbeit erschöpft. Was Gott schenkt und gewährt, ist für uns stets mit Störungen verbunden. Auch unsere Beziehung zu ihm.  Gott mag uns Widerstand leisten, doch er trennt sich nicht von uns. Wenn wir uns aus Scham oder Furcht verstecken, sucht er uns (Genesis 3).

Im Zeichen des Regenbogens

Die Erzählung von der Sintflut hat mit dem Regenbogen ein Bild gefunden, um auszudrücken, dass Gott mit den Menschen verbunden bleibt trotz der enttäuschenden Erfahrungen. Die Erde ist und bleibt gesegnet, ebenso die Menschen. Mit ihnen und allen(!) Lebewesen schliesst Gott einen Bund und verspricht: «[…] Nie wieder soll eine Flut kommen und die Erde verderben.» (Genesis 9,11) Damit Leben auf der Erde möglich ist, setzt Gott Grenzen und stellt Gebote auf. Denn nur in gegenseitiger Achtung und Verantwortung kann Leben gedeihen. So wird im Zeichen des Regenbogens auch heute noch für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung gekämpft.

Bitte

Wir werden eingetaucht
und mit dem Wasser der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden

Und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.

Hilde Domin (1909-2006)

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